Am Samstag, den 23. Oktober fand in Münster erneut ein „1000 Kreuze“-Marsch statt, bei dem radikale Abtreibungsgegner*innen, meist mit einem christlich-fundamentalistischen Hintergrund, gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die reproduktiven Rechte von Schwangeren protestieren. Der Marsch mit 90 Teilnehmenden war von lautstarken Protesten begleitet. Durch Wegdrücken, Schubsen und Faustschläge drängte die Polizei Protestierende an den Rand und ermöglichte so den Zug durch die Münsteraner Innenstadt. Insgesamt stellte sich ein immenses Polizeiaufgebot in der gesamten Stadt zur Schau, mit Massen an Gittern war die Innenstadt schon lange vor dem offiziellen Beginn des Protests der Fundamentalist*innen nur schwer begehbar.
Die Veranstalter*innen des in München ansässigen Vereins „Euro Pro Life“ bezeichnen ihre Demonstration als „Gebetsmarsch“. Die von ihnen mitgeführten weißen Holzkreuze sollen die angeblich täglich durchgeführten 1000 Schwangerschaftsabbrüche symbolisieren. Der Marsch folgt einer Choreografie, die sich über die Jahre nicht verändert hat. Die Teilnehmenden sammeln sich vor der Aegidi-Kirche und laufen von dort Gebetsverse und Lieder singend durch die Stadt. An der Spitze des Zuges wird ein Maria-Bildnis getragen, in einem Kinderwagen Blumen transportiert, die später an der Brücke zwischen Domplatz und Überwasserkirche in die Aa geworfen werden. Der Zug endet am Denkmal für Kardinal von Galen am Domplatz. Bis zum Ausbruch der Covid19-Pandemie fanden die Märsche immer im Februar rund um den Todestag des Kardinals statt. 2020 und 2021 wurden Termine im Oktober gewählt.
Die Beteiligung am Marsch stagniert seit Jahren bei um die 100 Teilnehmenden. Nur 2020 war doie Beteiligung 50 Personen eingebrochen. Von dem lautstarken und fortwährenden Gegenprotesten vorne, hinten und am Rand ihres Zuges zeigen sich die Teilnehmenden meist relativ unbeeindruckt. Der „1000 Kreuze“-Marsch fand in Münster erstmals 2006 statt. 2009 verzögerte eine Sitz- und Stehblockade der Auftakt des Zuges um Stunden. In den Folgejahren wurden die Proteste verstetigt. In verschiedenen Jahren nahmen immer wieder Neonazis von der NPD, AfD-Mitglieder oder Burschenschafter teil. In diesem Jahr konnte keine Beteiligung der AfD beobachtet werden.
Christlicher Fundamentalismus
Der gesamte Zug ist stets von christlichen Symboliken geprägt. Die Initiative „Euro Pro Life“ bezeichnet sich als überkonfessionell, in Münster dürfte aber die überwiegende Zahl der Teilnehmenden sich dem Katholizismus zurechnen. Das Bistum Münster ist schon vor vielen Jahren auf Distanz zu dem Marsch gegangen. Dafür beteiligen sich jedes Jahr Personen und Gruppierungen aus dem katholischen Fundamentalismus wie etwa Felicitas Küble, den den KOMM-MIT-Verlag und das Christoferuswerk mit Sitz im Stadtteil Angelmodde leitet. Das Christoferuswerk bzw. Küble ist auch verantwortlich für den Blog „Christliches Forum“. Küble ist seit Jahren fester Bestandteil des rechten Randes des Katholizismus, für den die Agitation gegen Schwangerschaftsabbrüche ein zentrales Thema ist. Küble äußert sich aber auch ablehnend gegenüber Zuwanderung.
Ein weiterer wichtiger lokaler Akteur ist Klaus Hengstebeck, der die „Virgilien für das Leben“ organisiert. Diese Gruppe verfolgt eine aus der radikalen „Pro Life“-Szene der USA entlehnte Taktik: Die Männer postieren sich vor Orten, an denen Schwangerschaftkonfliktberatun g angeboten oder Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. Sie beten dort und wollen den Anschein erwecken sie tun dies für die Schwangeren, die die Beratungsstellen oder Praxen aufsuchen. Doch ihre Präsenz soll stets dazu dienen, Schwangere* zu verunsichern und einzuschüchtern, sie in einer Entscheidung, die nur ihnen selbst überlassen sein sollte zu beeinflussen und Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern. Der Druck den die Männer versuchen zu erzeugen, wiegt schwerer als der des ein jährlichen „1000-Kreuze Marsch“, die anhaltende und regelmäßige Präsenz der Gruppen, nicht nur in Münster, sondern an vielen Orten, setzt auch die Mitarbeitenden unter Druck. Neben den Schwangeren hat die Szene eben vor allem auch Mediziner:innen im Visier, verklagt Ärzt*innen wegen vermeintlicher Werbung für Schwangerschaftsabbrüche und einem Verstoß gegen den immer noch nicht abgeschafften §219a oder appeliert an antifeministisch, christlich fundamentalistisch begründete Moralvorstellungen. Leider haben diese Taktiken durchaus Erfolg, wie die Tatsache zeigt, dass in Münster nur eine Praxis ambulante Schwangerschaftsabbrüche durchführt, zwei weitere Praxen bieten medikamentöse Abbrüche an. Welche Rolle dabei auch die Scharnierfunktion der Debatten um Schwangerschaftsabbrüche zwsichen christlichen Fundamentalist*innen, extremer Rechter und konservativ bügerlichem Milieu spielen, ist nicht vollends zu beantworten. Doch die Vermutung liegt nahe, dass die Gemengelage und der Einfluss von mindestens Einzelpersonen aus dem beschrieben Milieu in konservativ bürgerliche Lager ein Faktor für die Lage in Münster spielen.
Bundesverband Lebensrecht und Paul Cullen
Schwangerschaftsabbrüche mit rechtlichen Mitteln und aufgrund von psychischen und politischen Drucks zu verhindern, ist auch das Ziel des „Bundesverbands Lebensrechts“ und der „Ärzte für das Leben“. In beiden Gruppen spielt ein weiterer Münsteraner eine bedeutende Rolle, der die Scharnierfunktion bestens auszufüllen vermag: Paul Cullen ist ein wichtiger Akteur im Netzwerk radikaler Abtreibungsgegner*innen in Deutschland. Er ist erster Vorsitzender des Vereins „Ärzte für das Leben”, der ebenfalls zum Netzwerk radikaler Abtreibungsgegner*innen gehört und u.a. „Fachtagungen” zum Themengebiet „Lebensschutz” organisiert. Außerdem gehört er dem Vorstand des „Bundesverband Lebensrecht” an und ist damit einer der führenden Köpfe dieser Vereinigung. Im “Bundesverband Lebensrecht” sind unterschiedliche Akteur*innen der radikalen Abtreibungsgegner*innen-Szene organisiert, wie beispielsweise „Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA), die „Christdemokraten für das Leben” ein Interessenverband innerhalb der CDU oder das evangelikale „Institut für Ethik&Werte”. Der “Bundesverband Lebensrecht” organisiert die jährlichen so genannten “Märsche für das Leben” in Berlin, die größten Demonstrationen der Szene der radikalen Abtreibungsgegner*innen.
Trotz seiner Funktion als Geschäftsführer eines der größten mit der Auswertung von Coronatests betrauten Labore des Münsterlandes (MVZ Labor) erfreut sich Dr. Cullen zuletzt größerer Beliebtheit bei Gruppen, welche die Gefahren der Corona-Pandemie relativieren oder leugnen. Der Hintergrund: Dr. Cullen hat sich in einem auf der Plattform YouTube veröffentlichten Vortrag kritisch zu einem Impfstoff und die Auswirkungen der Pandemie geäußert. Er wird dabei nicht müde, zu verbreiten, dass die in Impfstoffen enthaltenen Zellen teils aus Abtreibungen stammen sollen. So erntet er Applaus von verschwörungsideologischen und extrem rechten Gruppen, u.a. der Münsteraner AfD. Hier zeigt Cullen wie weit er aufgrund seiner moralisch-politischen Überzeugung bereit ist, von medizinischen Fakten abzuweichen.
Dr. Cullen hat ebenfalls eine außerordentlicher Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität inne. Anfang diesen Jahres gab es eine Debatte um diese, angestoßen von AStA, Studierendenparlament und den kritischen Mediziner*innen, die die Aberkennung der Professur Cullens durch die WWU forderten.
In dieser Debatte bediente Cullen sich den klassischen Diskursstrategien der extremen Rechten: Zuerst werden ganz bewusst Dinge gesagt, die indiskutabel sind, dann werden diese als ‘Privatmeinung’ relativiert, ohne sich davon inhaltlich zu distanzieren, und zugleich doch erneut versucht, das Unsagbare als Debattenbeitrag wieder ‘diskutabel’ zu machen. Gleichzeitig stellte man sich als Opfer einer vermeintlichen politischen Korrektheit oder Cancel Culture dar – obwohl man selbst es ist, der andere angreift und ihnen Rechte abspricht. Diese Strategie ist aus der extremen Rechten seit vielen Jahren bekannt, insbesondere die sogenannte ‘Neue Rechte’ und auch viele Vertreter*innen der AfD greifen auf sie zurück. Dass Cullen seine Professur behalten durfte, ist uns weiterhin unverständlich.